Geschlechtersensible Psychotherapie: Wie Sie den Bedürfnissen von Männern gerecht werden

Ein Beitrag von M. Sc. Psych. Jana Schneider

In Deutschland erkranken jährlich knapp 28 % der erwachsenen Bevölkerung an psychischen Störungen. Das sind 17,8 Millionen Menschen. Davon sind rund drei Viertel der Psychotherapiepatient:innen weiblich. Damit scheinen Männer auf den ersten Blick seltener von psychischen Erkrankungen betroffen zu sein und/oder nehmen seltener Psychotherapie in Anspruch.

  • Doch können wir wirklich davon ausgehen, dass Männer weniger psychischen Belastungen unterliegen? 
  • Wie lässt sich dann aber der hohe Anteil der vollendeten Suizide auf Männer zurückführen? 
  • Und warum suchen Männer nicht häufiger Psychotherapeut:innen auf?

Psychische Gesundheit und Geschlecht: Eine differenzierte Betrachtung

Es ist offensichtlich, dass medizinische und psychische Leiden aus verschiedenen Gründen entstehen. Eine Krankheit oder psychische Störung kann sich bei verschiedenen Menschen und zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Symptomen zeigen. Das muss nicht unbedingt mit dem Geschlecht zusammenhängen. Trotzdem spielen neben Faktoren wie dem sozio-ökonomischem Status, Alter, Bildung und Genetik Statistiken zufolge eben auch das Geschlecht eine Rolle. Unsere Erziehung und die Rollenbilder, die uns seit unserer Kindheit durch unsere Umgebung, Familie und Social Media vermittelt wurden und sich im Laufe unseres Lebens verfestigt haben, prägen die Beschreibung und Wahrnehmung von Krankheiten und psychischen Störungen.

In diesem Beitrag wird der Fokus auf einem dieser Faktoren liegen: dem Geschlecht, insbesondere im Hinblick auf die psychische Gesundheit.

Das sagt die Forschung: Statistiken zur geschlechtsspezifischen Prävalenz psychischer Störungen

Die Statistiken weisen klare Unterschiede in den Prävalenzen psychischer Störungen zwischen Frauen und Männern auf. Demnach sind Frauen häufiger betroffen als Männer und nehmen häufiger eine Psychotherapie in Anspruch. Ein genauerer Blick auf die 12-Monats-Prävalenz, also den Prozentsatz der Bevölkerung, bei dem innerhalb von 12 Monaten eine bestimmte Diagnose gestellt wurde, liefert interessante Einblicke:  

Tab. 1 12-Monats-Prävalenzen psychischer Störungen (DSM-IV-TR) in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung
Störung bzw. Störungsgruppe (ICD-10-Code)Frauen Prozent (95%-Konfidenzintervall)Männer Prozent (95%-Konfidenzintervall)Gesamt Prozent (95%-Konfidenzintervall)Anzahl Betroffene (Mio.)
F1: Störung durch Substanzgebrauch13,9 (12,4–15,6)19,4 (17,5–21,3)16,6 (15,4–17,9)10,6
Störung durch Substanzgebrauch (ohne Nikotinabhängigkeit)3,5 (2,8–4,5)7,9 (6,7–9,4)5,7 (5,0–6,6)3,7
Alkoholmissbrauch0,4 (0,2–0,9)3,1 (2,4–4,1)1,8 (1,4–2,3)1,2
Alkoholabhängigkeit1,6 (1,1–2,2)4,4 (3,5–5,5)3,0 (2,5–3,6)1,9
Medikamentenmissbrauch1,7 (1,1–2,4)1,5 (1,0–2,2)1,6 (1,2–2,0)1,0
Medikamentenabhängigkeit0,7 (0,4–1,2)0,3 (0,1–0,6)0,5 (0,3–0,8)0,3
Nikotinabhängigkeit11,7 (10,3–13,3)14,6 (13,0–16,3)13,1 (12,1–14,3)8,4
FrauenMännerGesamtBetroffene
F3:Affektive Störungen12,4 (10,9–14,1) 6,1 (5,1–7,2) 9,3 (8,3–10,3)6,0
Unipolare Depression10,6 (9,2-12.2)4,8 (4,0–5,7)7,7 (6,9–8,6)4,9
Major-Depression8,4 (7,2–9,9)3,4 (2,8–4,3)6,0 (5,2–6,8)3,9
Bipolare Störung1,7 (1,2–2,5)1,3 (0,8–2,0)1,5 (1,1–2,0)1,0
Bipolar I1,1 (0,7–1,6)0,9 (0,5–1,5)1,0 (0,7–1,4)0,6
Bipolar II0,7 (0,4–1,3)0,5 (0,2–1,1)0,6 (0,4–1,0)0,4
FrauenMännerGesamtBetroffene
F4: Angststörung21,3 (19,4–23,2)9,3 (8,0–10,8)15,3 (14,2–16,6)9,8
Panikstörung (mit u. ohne Agoraphobie)2,8 (2,2–3,6)1,2 (0,8–1,8)2,0 (1,6–2,5)1,3
Soziale Phobie3,6 (2,7–4,8)1,9 (1,4–2,5)2,7 (2,2–3,4)1,7
Generalisierte Angststörung2,9 (2,2–4,0)1,5 (1,1–2,2)2,2 (1,8–2,8)1,4
Spezifische Phobien Tierphobien, Phobien vor Naturereignissen (z. B. Gewitter), situationale Phobien (z. B. Höhe), Blut-/Spritzen-/Verletzungsphobien15,4 (13,8–17,2)5,1 (4,2–6,2)10,3 (9,3–11,3)6,6
Auszug aus Jacobi et al., 2014, S. 80

Geschlechterunterschiede bei Angststörungen:

Für Angststörungen liegt die 12-Monats-Prävalenz bei Frauen und Männern zusammen bei 15,3%. Betrachten wir die Prävalenz getrennt nach Geschlecht, ist sie bei Frauen doppelt so hoch wie bei Männern. Konkret bedeutet das: 21,3% der Frauen berichten von einer Angststörung innerhalb von 12 Monaten, während es bei Männern 9,3% sind.

Geschlechterunterschiede bei affektiven Störungen:

Ähnliche Muster zeigen sich bei affektiven Störungen. Die Gesamtprävalenz beträgt hier 9,3%, aber bei genauerem Hinsehen sind die Zahlen unterschiedlich. 12,4% der Frauen erhalten innerhalb von 12 Monaten die Diagnose einer affektiven Störung, verglichen mit 6,1% der Männer. Noch genauer betrachtet zeigt sich bei unipolaren Depressionen eine 12-Monats-Prävalenz von 10,6% bei Frauen und 4,8% bei Männern. 

Geschlechterunterschiede bei Störungen durch Substanzgebrauch:

Bei externalisierenden Störungen, wie Störungen durch Substanzgebrauch, ist das Bild anders. Die 12-Monats-Prävalenz beträgt hier bei Frauen 13,9%, bei Männern jedoch 19,4%. Insbesondere bei Alkoholabhängigkeit beträgt die Prävalenz 0,4% bei Frauen und 3,1% bei Männern.

Anhand der 12-Monats-Prävalenz scheint es, dass Männer insgesamt seltener an internalisierenden Störungen leiden als Frauen. Leiden Männer damit auch seltener an den Folgen dieser psychischen Störungen? 

Folgen psychischer Störungen: Suizidalität 

Neben den vielen Fehltagen und den hohen Kosten, die für das Gesundheitssystem entstehen, führen psychische Störungen zu einem enormen Leidensdruck für die Betroffenen. Oft ist der Alltag nicht mehr zu bewältigen, und im schlimmsten Fall kann dieser Druck zu Selbstmordgedanken führen und letztlich im Suizid enden. 

Wir schauen uns das mal am Beispiel der Depression an: Obwohl Depressionen bei Frauen mehr als doppelt so häufig diagnostiziert werden wie bei Männern, sterben Männer fast dreimal häufiger durch Suizid. Im Jahr 2022 verloren insgesamt 10.119 Menschen ihr Leben durch Suizid. Das entspricht fast 28 Personen pro Tag, wobei 75% davon Männer waren.

Könnte es also sein, dass Männer nicht unbedingt seltener an Depressionen leiden und dass das weibliche Geschlecht daher kein ausschlaggebender Risikofaktor ist? Was ist, wenn Männer ihre depressiven Symptome einfach anders beschreiben als Frauen und daher die Diagnose der Depression, die hauptsächlich auf weiblichen Erfahrungen basiert, in unseren gängigen Diagnosemanualen keine angemessene Berücksichtigung findet?

Übersehen und unterschätzt: Die stille Epidemie der männlichen Depression

Laut dem Internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten (ICD) können Depressionen durch verschiedene Symptome gekennzeichnet sein, darunter Antriebslosigkeit, verminderte Konzentration, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Suizidgedanken, Schlafstörungen, veränderter Appetit und psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung.

Bei Männern äußern sich depressive Symptome jedoch oft durch Gereiztheit, aggressives Verhalten und ein erhöhtes Risikoverhalten. Dies kann sich beispielsweise in Verkehrsunfällen oder einem erhöhten Alkoholkonsum zeigen.

Eine Studie aus dem Jahr 2013 identifizierte ebenfalls typische Symptome von Depressionen bei Männern, darunter Wutausbrüche, Aggressionen, Substanzmissbrauch und riskantes Verhalten. Wenn diese eher »männlichen« Symptome von Depression berücksichtigt werden, erfüllen signifikant mehr Männer (26,3 %) als Frauen (21,9 %) die Diagnosekriterien für Depressionen. Sobald sowohl traditionelle als auch die eher männlichen Symptome berücksichtigt werden, gleichen sich die Zahlen zwischen den Geschlechtern aus: 30,6 % der Männer und 33,3 % der Frauen erfüllen die Kriterien für Depressionen. Doch warum berichten Männer von anderen Symptomen als Frauen? Warum wurden und werden diese unterschiedlichen Ausdrucksformen psychischer Gesundheitsprobleme zwischen Männern und Frauen nicht bei der Diagnose berücksichtigt?

Geschlechtsspezifische Aspekte in der Diagnostik: Erkennen von psychischen Störungen bei Männern

Bei der Betrachtung männerspezifischer Symptome zeigt sich, dass z.B. Depressionen bei Frauen und Männern in etwa gleich häufig auftreten. Doch welche Herausforderungen stellen sich Psychotherapeut:innen, Ärztinnen und Ärzten bei der Diagnose psychischer Störungen genau?

Geschlechterunterschiede im Zugang zur Psychotherapie: Eine Barriere für Männer

Beim Zugang zu Psychotherapie gibt es klare Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Frauen suchen häufiger von sich aus Unterstützung bei Therapeut:innen, während Männer eigenständig seltener den Weg zur Psychotherapie finden. Oft benötigen sie den Anstoß von Ärztinnen und Ärzten oder Familienmitgliedern, um Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es scheint, dass Männer mehr Schwierigkeiten haben, den Schritt zur Therapie zu machen als Frauen.

Geschlechtsspezifische Symptome verstehen und Diagnostizieren

Männer und Frauen äußern ihre Symptome oft unterschiedlich. Männer neigen dazu, ihre Beschwerden eher auf körperliche Probleme zu reduzieren, während Frauen oft detaillierter über ihre psychische Verfassung sprechen. Diese Unterschiede können zu einer fehlerhaften Diagnose führen: Frauen werden gegebenenfalls fälschlicherweise mit einer psychischen Störung diagnostiziert, obwohl die Ursache in körperlichen Beschwerden liegt. Bei Männern wird die Ursache ihrer Symptome oft auf körperliche Probleme zurückgeführt, obwohl sie psychischer Natur sein könnten.

Zusammenfassung: Männer, Maskulinität und Depression – Die Herausforderung traditioneller Rollenbilder

Die Vorstellung, dass Männer weniger anfällig für psychische Störungen sind, weil sie stark und unerschütterlich sein sollen, entspricht einem überholten Klischee. In der Realität zeigen Statistiken ebenso, dass Männer genauso häufig wie Frauen von Depressionen und anderen psychischen Herausforderungen betroffen sind. Ihre Symptome können jedoch anders sein und sich eher mit traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit decken. Das kann zu Fehldiagnosen führen und den Zugang zur richtigen Behandlung erschweren.

Die Geschlechterunterschiede in der Symptomatik sind ein wichtiger Aspekt, der oft übersehen wird. Während Frauen tendenziell detaillierter über ihre emotionalen Zustände sprechen, konzentrieren sich Männer eher auf körperliche Symptome. Diese unterschiedlichen Ausdrucksformen können dazu führen, dass männliche Patienten falsch diagnostiziert werden oder erst spät Hilfe suchen. Diese Erkenntnis unterstreicht die Notwendigkeit einer geschlechtsspezifischen Sensibilität im Gesundheitswesen.

Um die Frage zu beantworten, ob Männer tatsächlich seltener an psychischen Störungen leiden, müssen wir die vorhandenen Daten analysieren. Statistiken zeigen, dass Männer und Frauen ähnlich häufig erkranken, jedoch auf unterschiedliche Weise. Männer zeigen sich möglicherweise eher in externalisierenden Verhaltensweisen wie Abhängigkeit, die auch Symptome einer Depression sein können. Das Unverständnis für diese verschiedenen Ausdrucksformen kann dazu führen, dass Männer weniger häufig psychotherapeutische Hilfe suchen. Auch die Berücksichtigung der Auswirkung von psychischen Störungen innerhalb der LGBTQIA+-Community ist ein noch wenig untersuchter Forschungsbereich. 

Es ist also wichtig, die Vielschichtigkeit von psychischen Störungen und deren Einflussfaktoren zu verstehen. Neben biologischen und sozialen Aspekten spielt auch die individuelle Erfahrung eine Rolle. Die moderne Medizin und Psychotherapie müssen daher einen ganzheitlichen und gendersensiblen Ansatz verfolgen, der die Vielfalt menschlicher Erfahrungen berücksichtigt und eine offene und zugängliche Versorgung für alle Menschen ermöglicht.


Um dieses Thema weiter zu vertiefen und Einblicke in die realen Erfahrungen sowie Herausforderungen von Männern im Umgang mit Depressionen zu gewinnen, möchten wir Ihnen die Podcast-Folge ‚Männer und Depression: Gespräche über ein Tabuthema‘ von SWR2 Wissen empfehlen. Diese Episode beleuchtet die Problematik aus verschiedenen Perspektiven und bietet wertvolle Erkenntnisse, die für Therapeut:innen wie auch Betroffene von großem Interesse sein können. Hören Sie rein und erweitern Sie Ihr Verständnis über die geschlechtsspezifischen Aspekte der Psychotherapie.

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Quellen